Lucas Krieg (27) – luzider Traum mit kreativem Experiment
Geträumt 2012 und aufgenommen im Buch Amauch (2013)

Junikäferhelm

 

Es ist Krieg.

Das Gelände, auf dem wir die Stellung halten müssen, wird mit Hilfe unseres Spionagesatelliten auf den Bildschirm vor mir übertragen. Auf dem Live-Bild sehe ich wie eine unserer Lufteinheiten – ein Abfangjäger – das unbekannte Feindesland erkundet. Der Aufklärungsradius der Flugmaschine ist nur etwa fünfzig Meter groß. Nur für den Moment ihrer Anwesenheit können wir einen kleinen Kreis des Gebiets einsehen. Der Abfangjäger kriecht ängstlich durch den Luftraum, um nicht aus dem Nichts überrascht und von einer feindlichen Einheit abgeschossen zu werden.

Ich analysiere die Entwicklungen auf dem Monitor. Mir kommt die Idee, dass in der Luft stehende Kampfjets die perfekten Instrumente zur permanenten Überwachung wären. Eine feindliche Invasion könnten sie stets rechtzeitig erkennen…

 

Abrupt wechsele ich den Ort. Ich bin Kampftaucher und stehe in einem Fluss, der sich durch den Urwald schlängelt. Mitten in dem umkämpften Gebiet. Einsatzbereit verharre ich auf meinem Posten. Der Fluss ist gerade so tief, dass nur die obere Hälfte meiner schwarzen Tauchmaske aus dem Wasser ragt. Niemand weiß, dass ich hier bin.

Ich erkenne unseren Kampfjet, wie er das Gelände aus dem Luftraum überwacht und enge Kreise am Himmel zieht. Plötzlich nähert sich eine feindliche Flugmaschine. Eine Rakete zischt. Sekundenbruchteile später schlägt sie in unserer Maschine ein. Sie explodiert in einem Inferno aus Feuer, Rauch und Metallsplittern.

Ich beobachte den weißen Punkt am Himmel, der aus dem Cockpit gefallen ist. Unser Pilot scheint den Ausstieg rechtzeitig geschafft zu haben. Er baumelt an den Schnüren des Fallschirms und sinkt langsam zu Boden. Das feindliche Flugzeug dreht eine Runde. Ich kann nur tatenlos zusehen, wie es gemächlich seine Maschinengewehre entleert und der Schwall aus Projektilen auf unseren Piloten herabregnet. Er zuckt nicht einmal.

Ich bin eins mit dem trüben Fluss. Ich stehe fest im Wasser wie ein Stein. Regungslos spähe ich durch die Öffnung meiner Tauchmaske. Meine Gedanken arbeiten: Ist der Pilot tot? Oder tut er nur so, um seinen Gegner zu täuschen?

Der Fallschirm sinkt tiefer und ich kann bereits die Uniform des Kampfpiloten erkennen. Kein Lebenszeichen. Er hat bereits den Ausstieg nicht überlebt. In seinen Bauch sind zahlreiche Löcher geschossen – groß und rund, wie in einer Scheibe Emmentaler.

Wenige Meter vor mir platscht er ins Flusswasser. Ich tauche ab und beobachte, wie er tiefer sinkt. Die Schnüre des Fallschirms wickeln sich um ihn wie weißer Seetang. Langsam schwebt der Tote in die Tiefe bis er sich im trüben Grün des Wassers auflöst. Er ist weg. Ich schwimme davon.

Unter Wasser streife ich einen Baumstamm. Meine Knie schaben über den steinigen Grund des Flussbetts. Am Ufer angelangt, recke ich den Kopf und erhebe mich aus dem Wasser.

Ich beschließe in den Urwald zu gehen. Am Rand des Flussbetts ist das Wasser so weit zurückgegangen, dass der sonst überschwemmte Boden offenliegt. Meine Kampfmontur tropft auf die glatten Kieselsteine, als ich mit knirschenden Schritten in Richtung Wald laufe.

Die Idylle erfüllt mich mit einem Gefühl von Geborgenheit. Einen Augenblick lang halte ich inne und betrachte die saftigen Blätter der Wildnis im Sonnenlicht. Am Ende des Kiesbetts führt ein Trampelpfad in den Dschungel.

Ich blicke zurück, um mich zu verorten und mir die Gegend einzuprägen. Denn falls ich flüchten und hierher zurückkehren müsste, sollte ich mich schnellstens orientieren können.

Mir sticht ein grauer Kieselstein ins Auge, flach wie ein Fladenbrot. Ich präge mir die Position des Steins ein, der inmitten einer Pfütze aus brackigem Wasser thront. Nach ein paar Schritten in den Dschungel kehre ich testweise um und prüfe, ob ich den Stein wieder finde. Es klappt. Ich verschwinde im Urwald.

Langsam beschleicht mich ein altbekanntes Gefühl. Mehr und mehr vermute ich, dass ich träumen könnte. Trotzdem stapfe ich weiter. Schlagartig endet der Urwald und ich trete mitten auf eine große Wiese.

„Vorsicht – bloß nicht entdeckt werden!“, denke ich und hechte mich in Richtung einer Kuhle, die unter einem Baum am Wegrand liegt. Urplötzlich und noch während dem Flug verringert sich mein Körpergewicht. Am Baum angelangt, bin ich schwerelos und muss mich am Stamm entlang zu Boden ziehen.

Die verringerte Schwerkraft macht mich stutzig und es wird mir klar: Ich träume! Sogleich erinnere ich mich an mein Vorhaben, nämlich dass ich eine Traumfigur treffen möchte, um sie um ein Gedicht zu bitten. Von meinem Versteck aus nehme ich auch schon die ersten Menschen wahr: Spaziergänger, Gassigeher, Pärchen und junge Familien, die Picknick machen. Ich halte nach einem geeigneten Dichter Ausschau. Wenige Schrittlängen neben mir sitzt ein indisches Ehepaar auf der Wiese. Einen Steinwurf vor mir entfernt befinden sich eine junge deutsche Frau mit ihrem Mann auf einer Picknickdecke mitsamt einem Zelt.

Während ich die Menschen im Grünen begutachte, entfaltet sich meine Klarheit. Mein Körpergewicht ist wieder zurückgekehrt. Die Qualität meiner Wahrnehmung ist kaum mehr von der in der Wachwelt zu unterscheiden. Der Traum fühlt sich sehr stabil an und ich schätze, mehrere Minuten Zeit bis zum Erwachen zu haben. Beste Voraussetzungen also für mein Experiment.

Ich entscheide entspannt abzuwarten, bis jemand vorbei kommt, der mir vielversprechend erscheint. Während ich weiter die Gegend überwache, erscheint in der Ferne eine blonde Frau auf einem Damenrad. Sie ist etwa in meinem Alter und erinnert mich an eine alte Freundin. Quer über die Wiese steuert sie auf das Pärchen mit dem Zelt zu. Ihre goldenen Korkenzieherlocken baumeln wild hin und her, als sie über ein paar Hügel schaukelt. Kurz vor ihrem Ziel steigt sie vom Fahrrad und marschiert flotten Schrittes auf die Beiden zu.

Eine gute Kandidatin. Ich springe auf, trete unter dem Baum hervor und mache mich mit leisen Rufen bemerkbar. Keine Reaktion. Die junge Dame mit den Locken beginnt sich mit ihren Freunden zu unterhalten und wendet mir den Rücken zu. Als ich vorsichtig näher komme, raune ich ihr eindringlich zu, dass sie mir doch bitte ein Gedicht vortragen soll.

Abrupt dreht sie sich um und sieht mich an. Ihr Blick ist wach und offenherzig. Sie ist mir gleich sympathisch.

„Gern. Ich mache so etwas öfter. Kann ich dir auch eine E-Mail schreiben?“, entgegnet sie.

Ich werde hellhörig und ahne das Potential unserer Begegnung. Das Pärchen nimmt keine Notiz. Doch auf einmal geht es ziemlich schnell. Unmittelbar setzt ein weiteres vertrautes Gefühl ein: Das nahende Erwachen.

„Ich hätte aber gern, dass du es mir jetzt vorsagst!“, dränge ich hastig.

Sie zögert, aber willigt ein: „Meinetwegen. Warte, ich muss nur schnell was holen ...“

Sie dreht sich um und schlüpft in den Zelteingang. Ich vermute, dass sie dort einen selbst verfassten Gedichtband untergebracht hat. Meine Aufregung steigt. Es bleibt kaum noch Zeit, doch ich muss wohl oder übel auf sie warten.

Nur indem ich die sensorische Wahrnehmung steigere, kann ich mich jetzt noch lange genug im Traum halten. Mit allen Mitteln versuche ich das nahende Traumende hinauszuzögern.

Ich starre auf die Picknickdecke und die Gegenstände, die auf ihr verstreut sind. Zwei gelbe Tennisbälle aus Schaumstoff springen mir ins Auge. Hektisch greife ich danach und knete sie in meinen Fingern. Mit aufgerissenen Augen untersuche ich kurz die Poren des zerknautschten Schaumstoffs, werfe die Bälle fort und sehe mich weiter um.

Noch auf der Decke: Ein Kinder-Fahrradhelm. Rot mit schwarzen Punkten – wie ein Junikäfer. Blitzschnell greife ich zu, befühle die glatte Oberfläche, drehe und wende den Helm. Ich rieche hastig an der schwarzen Stoffeinlage im Inneren der Styroporschale. Im letzten Moment lasse ich den Junikäferhelm wie eine glühende Kohle fallen. Das war knapp: Wenn mein Blickfeld zu dunkel wird, erwache ich meist unabsichtlich. Die Zeit rennt mir davon. Ich schüttele den Kopf, blicke nach allen Seiten, schinde Sekunde um Sekunde.

Endlich kehrt die Frau zurück. In ihrer Hand trägt sie ein in Leder gebundenes Buch. Sie stellt sich vor mich, klappt es auf und liest:

 

„The rightless break their heart,

their mind and peace,

coldly found by nature.“

 

 

Mit ihrem letzten Wort erwache ich.  Sofort notiere ich ihren Text. Ein Blick auf den Radiowecker verrät mir: Es ist 8.20 Uhr.

Ich beginne die restlichen Aufzeichnungen des Geschehens.

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